Schweizer Journalistin in Israel: «Wir sollten uns gut überlegen, für welche Werte wir nun einstehen»

Als die Schweizer Journalistin Cécile Cohen sich dazu entschied, eine Familie in Israel zu gründen, wusste sie, dass es kompliziert wird. Diese Komplexität zeigt sich gerade durch den Krieg gegen die Hamas. Ein Kommentar.

Text: Cécile Cohen, erschienen am 19. Oktober 2023 auf annabelle.ch

«Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich mich für die Liebe zu einem ‹Jeruschalmi› – einem in Jerusalem geborenen Juden – entschieden habe. Es war kein einfacher Entscheid, denn eine Familie in Israel zu gründen heisst – nebst vielen unbeschreiblich bereichernden und schönen Dingen –, dass meine Kinder mal in die Armee gehen und sie in einer Realität aufwachsen werden, in der Krieg nicht nur Theorie ist.

Sie werden ab und zu vor einem Raketenangriff Schutz im Bunker suchen müssen und mein Mann und ich werden aktiv dagegen ansteuern müssen, dass sie nicht ein Weltbild mitbekommen, bei dem man sich vor Muslimen im Kollektiv zu fürchten hat. Die unzähligen Geschichten und eigenen Erfahrungen von Hass und Diskriminierung – egal wo auf der Welt, nur weil sie einen jüdischen Namen tragen – werden es ihnen aber schwer machen, dies tatsächlich zu glauben.

Zu jüdisch, zu wenig jüdisch

Meine Tochter ist erst anderthalb Jahre alt und hat bereits Diskriminierung erlebt. Leider – ich sage es ganz ehrlich – von beiden Seiten: von solchen, denen sie mit ihrem israelischen Vater zu jüdisch ist, und solchen, denen sie wegen ihrer nicht jüdischen Mutter zu wenig jüdisch ist.

Als ich mich für diese Liebe entschied, wusste ich: Es wird komplex, es wird kompliziert, ich werde einiges aushalten müssen. Gerade wird uns diese Komplexität durch den Krieg, der vor zwölf Tagen begonnen hat, schmerzlich vor Augen geführt. Seit die Hamas am 7. Oktober von Gaza nach Südisrael eingedrungen ist und in mehreren Dörfern, Kibbuzim und an einer Trance-Party rund 1400 unschuldige Zivilisten ermordet und 200 Menschen gekidnappt hat, hat sich unser Leben auf den Kopf gestellt.

Zuerst waren das Entsetzen und die Trauer, dann die Angst um die Soldaten, die einrücken und an die Front fahren mussten – einer dieser Soldaten ist mein Neffe, andere sind Freunde, Familienväter und Mitarbeiter meines Mannes. Es sind Menschen, die wir lieben, die Teil unseres täglichen Lebens sind.

Auch sonst hat sich der Alltag komplett verändert. Schulen und Kitas sind geschlossen oder nur teilweise geöffnet. Das Kriterium: Wenn die Sirenen erklingen, müssen alle Kinder und Betreuungspersonen innert 90 Sekunden in Sicherheit gebracht werden. Viele Geschäfte bleiben zu, Einnahmequellen versiegen, das gesparte Geld auf dem Bankkonto verliert an Wert.

Kommt es zum grossangelegten Krieg?

Wir leben in ständiger Unsicherheit. Wird die israelische Armee nach Gaza eindringen? Schaltet sich dann auch die schlagkräftigere Hizbullah vom Südlibanon ein, um Israel vom Norden her anzugreifen? Kommt es zu einem grossangelegten Krieg unter der Führung Irans? Schon jetzt merke ich, wie ich nicht mehr dieselbe Mutter bin, die ich noch vor einer Woche war.

Vorgestern liess ein Töfffahrer seinen Motor laut aufheulen und schon dachte ich, wir müssten wieder in den Bunker rennen. Hat meine Tochter nicht das Recht, ohne diesen Stress und diese Bedrohung aufzuwachsen? Noch denkt sie, es sei ein Spiel, wenn wir im Keller Schutz vor den Raketen suchen und dort unsere Nachbarn mit Kind und Hunden treffen oder wenn wir auf dem Spielplatz über die Wiese rennen, unterwegs in den nächstgelegenen Unterschlupf. Doch sie spürt die Anspannung, sieht die traurigen Gesichter, spürt die Aufgekratztheit von Kindern, Müttern und Grosseltern.

Kaum noch israelische Araber

Das Strassenbild in unserem Quartier hat sich auch verändert, weil es kaum noch israelische Araber gibt, denen man begegnet. Sie machen rund 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus – Westbank und Gaza ausgeschlossen – und leben oft in eigenen Wohnquartieren und Dörfern. Zwar trifft man sie noch hier und dort, als Verkäuferinnen im Supermarkt, als Ärzte im Spital – doch als Babysitter, Bauarbeiter und Strassenputzer bleiben sie aus. Ein Grund ist sicher, weil ihnen jüdische Israelis im Moment nicht trauen und sie nicht in ihrem Zuhause haben wollen. Vielleicht fürchten sie sich aber auch vor Fragen und Diskriminierung oder gar vor den Hamas-Raketen, die auf jüdisch-israelische Orte abgefeuert werden.

Ein Bekannter aus Neve Shalom, einem einzigartigen Dorf in Israel, wo Juden und israelische Araber zusammenleben, bleibt zu Hause, weil er keine Kraft für Anfeindungen hat. Solidarisieren arabische Israelis mit den Juden, müssen sie oft in Kauf nehmen, von ihren eigenen Leuten ausgegrenzt und angefeindet zu werden. Ein arabischer Velohändler hatte beispielsweise Mitgefühl für die Kinder der jüdischen Hamas-Opfer und spendete 50 Fahrräder. Ein Tag später stand sein Laden in Flammen. Solche Dinge meine ich, wenn ich sage, es ist komplex. Ganz zu schweigen davon, was gerade in Gaza passiert.

Diskussion über israelische Blockade von Essen und Wasser

Es tut mir leid für jede Mutter, die mit ihren Kindern fliehen muss, für jedes Kind, das in diesem Krieg stirbt, für alle, die ihr Geschäft und damit ihr Einkommen verlieren, denn dieser Kontrollverlust zieht oft nur weitere Gewalt mit sich, unter der wiederum Frauen und Kinder leiden – ich kenne diese Dynamiken gut, weil ich mich als Doktorandin intensiv mit dem Thema Krieg und Versöhnung auseinandersetze. Gerade gestern ist bei uns unter Freundinnen eine Diskussion darüber entbrannt, ob die israelische Blockade von Essen, Strom und Wasser gegenüber Gaza gerechtfertigt ist – das humanitäre Völkerrecht sagt höchstens für ein paar Tage.

Kriegsmassnahmen müssen immer zielgerichtet und verhältnismässig sein – das heisst, im jetzigen Kontext, dass beim Verfolgen des militärischen Ziels von Israel, die Hamas zu schwächen und im besten Fall zu vernichten, möglichst wenig Zivilisten ums Leben kommen dürfen. Dies ist schwierig, weil sich die Hamas in einem geschätzt 500 Kilometer langen Tunnelsystem unter den Wohngebieten Gazas verschanzt und absichtlich zivile Opfer in Kauf nimmt.

Israel riskiert Unterstützung der Staatenwelt

Denn, so pervers es klingt: Jedes palästinensische Opfer schadet Israel mehr als der Hamas – Israel riskiert damit die Unterstützung der Staatenwelt, schürt den Hass in den arabischen Staaten und die Hamas nutzt die hohe Opferzahl zur Legitimation für weitere Operationen. Das hat gerade eindrücklich der Raketeneinschlag im Ahli-Arab-Spital gezeigt, obwohl es höchst umstritten ist, dass die Rakete tatsächlich von den Israelis abgefeuert wurde.

Ich finde es gefährlich, dass auf den europäischen und amerikanischen Strassen Pro-Palästina-Demos stattfinden, an denen die Hamas-Kämpfer als Freiheitskämpfer glorifiziert werden. Mitleid mit den Opfern aus Gaza zu haben, kann ich verstehen. Jedoch muss man sich die schmerzliche Frage stellen: Für welche Ideologie steht der Grossteil dieser Menschen?

Die zivile und die militärische Sphäre sind in Gaza ineinander verwoben. Der Militärflügel der Hamas, die sogenannten Kassam-Brigaden, wird auf 30’000 Kämpfer geschätzt, dazu kommt ein ganzer politischer Verwaltungsapparat. Viele Bewohner in Gaza haben also einen Bruder, einen Onkel oder einen Sohn, der in diese Organisation verstrickt ist. Dessen muss man sich bewusst werden.

Hass gegen Israelis über Generationen

Dabei ist es nicht nur Angst, die die Leute antreibt, sondern über Generationen Hass gegen Israelis. Auch die besten Friedensprojekte und UN-Schulen vermögen dieses Weltbild nicht zu verändern, das zeigen unzählige Studien. Es ist ein Weltbild, das keine Juden auf dem Stück Erde zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer will. Und da bin ich ganz klar: Ich habe keine Toleranz mit einer Terrororganisation und ihren Anhängern, die zum Ziel haben, alle Juden auf dem Stück Land auszulöschen, das sie 1948 per UNO-Beschluss zugesprochen bekommen haben, nachdem sie in Europa verfolgt und beinahe ausgelöscht wurden.

Es waren die umliegenden arabischen Länder, die 1948 Israel den Krieg erklärt haben. Zuvor und danach gab es mehrere Versuche, das Land aufzuteilen. Diese sind auch daran gescheitert, weil sich die palästinensische Seite nicht zusammenraufen und ein Abkommen unterschreiben wollte.

Siedlungen ein Geschwür

Israel hat ein Existenzrecht, die Juden das Recht, irgendwo auf dieser Erde einen Ort zu haben, an dem sie in Sicherheit ein jüdisches Leben führen können. Ich rede nicht von den Siedlungen – auch ich finde sie ein Geschwür. Aber das ist gerade der Punkt: Die Menschen, die vor zehn Tagen umgekommen sind, sind nicht fanatische Siedler, die auf umstrittenem Gebiet wohnen. Das waren junge Leute, die an einer Party zusammen mit israelischen Palästinensern für den Frieden tanzten, Menschen, die mit ihren Familien in Dörfern wohnen, auf einem Gebiet, das seit der Staatsgründung zu Israel gehört. Darunter viele Leute, die in den letzten Monaten gegen die Regierung Netanjahus auf die Strasse gingen.

Menschen wie ich, die sich für Demokratie, eine offene Gesellschaft und den Dialog – auch wenn wir uns bewusst sind, wie schwierig dieser ist – einsetzen. Die Hamas und ihre Anhänger vertreten ein anderes Weltbild. Viele, die sich jetzt mit der Hamas solidarisieren, haben einen zentralen Punkt nicht verstanden: Die Hamas sind Terroristen, Fundamentalisten, ihr Angriff ist auch als ein Angriff auf westliche Werte zu verstehen. Wir sollten uns sehr gut überlegen, für welche Werte wir nun einstehen.»

Bild: Micha Lubaton