Michal Govrin und ihr Roman „Strandliebe“: „Ich wollte einen Eros zeigen, der transformiert und heilt“

In der Geschichte um eine Dreiecksbeziehung im Israel der 1960er Jahre ist auch die politische Gegenwart gespiegelt. Die Schriftstellerin kennt die Sehnsucht nach intensiven Erfahrungen, weshalb sie heute lieber in Jerusalem als Tel Aviv lebt.

Text: Cécile Cohen, erschienen im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung (7.9.2023) sowie auf nzz.ch

Die junge Esther Weiss kehrt nach dem Stenografiekurs nicht nach Hause zu ihren religiösen Eltern zurück, sondern steigt in den Bus und fährt zum Strandklub. Sie ist getrieben vom Verlangen nach «mächtiger Liebe» – ein Zitat des israelischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik. Das Haar trägt sie offen, ihre Schultern sind vom blauen Trägerkleid entblösst, das sie sich heimlich gekauft hatte. Aus den Lautsprechern dröhnen Hits der sechziger Jahre, «Put Your Head On My Shoulder» von Paul Anka oder «Bésame mucho» von Consuelo Velázquez.

Auf der Tanzfläche zieht sie die Blicke zweier Männer auf sich: den des etwas älteren, ursprünglich aus Marokko stammenden und aus Paris angereisten Moïse – und kurz darauf den von Alejandro, dem wortkargen Barjungen aus Buenos Aires. Esther wird sich am Ende dieses Sommers für einen der beiden entscheiden, dabei wird die Liebe das Leben aller drei Protagonisten verändern.

«Ich wollte einen Eros zeigen, der transformiert und heilt», sagt die israelische Schriftstellerin und Theaterregisseurin Michal Govrin, als wir uns in ihrer lichtdurchfluteten Wohnung im Intellektuellenviertel Rechavia in Jerusalem treffen. Govrin hat sich mit ihren Büchern in Israel, Frankreich und den USA einen Namen gemacht und wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. In diesem Frühling ist ihr Roman «Strandliebe» als deutsche Übersetzung im allerersten Programm des Geparden-Verlags von Anne Wieser und Bettina Spoerri erschienen.

Was nach einem simplen Liebesplot klingt, entpuppt sich als vielschichtiges Porträt des Israel der frühen 1960er Jahre. Denn Esther, Moïse und Alex sind Teil einer zusammengewürfelten Gesellschaft: Kinder von jüdischen Flüchtlingen und Shoah-Überlebenden, angespült aus Europa, aus den umliegenden arabischen Staaten oder aus Südamerika. «Wie beginnt neues Leben, nach einer Vergangenheit, über die nicht gesprochen wird?» Das ist die Frage, die Govrin interessiert.

Sehnsucht nach Leben

Govrin kennt die Zeit, über die sie schreibt. Sie ist in Tel Aviv aufgewachsen als Tochter einer Holocaustüberlebenden, die im Krieg ihren ersten Mann und ihren 8-jährigen Sohn verloren hatte. Ihr Vater war ein «Pionier», der in den zwanziger Jahren mit seiner Familie aus der Ukraine nach Palästina für den Aufbau des neuen Staates einreiste. Sein Bruder Akiva, Govrins Onkel, unterzeichnete 1948 als Mitglied des Gewerkschaftsbundes die israelische Unabhängigkeitserklärung mit.

Govrin hörte die amerikanischen und französischen Hits im Sprachunterricht. «Unsere Lehrerin spielte uns auf dem Plattenspieler die Songs von Elvis, Salvatore Adamo oder Christophes ‹Aline!›. Sie erzählten von Sehnsuchtsorten, weit weg vom rauen Alltag in Israel.» Mit «rau» meint sie den stressigen Alltag eines Staates im Aufbau, die Kriege, den Eichmann-Prozess und das Schweigen der Mutter. Erst später merkte sie, dass sie dieses Schicksal mit vielen anderen teilt.

Wie die Protagonisten in «Strandliebe» spürte auch Govrin den Drang, sich von den Schatten der Vergangenheit loszutanzen, intensiv zu leben. «Ich war eine Rebellin», sagt sie. Doch im Gegensatz zu ihrer religiösen Titelheldin ist sie in einem weltlichen Zuhause aufgewachsen, in dem viel gelesen wurde und in dem man regelmässig ins Theater ging. «Meine Eltern glaubten fest daran, dass Künstler die Träger von Wissen über den tiefen Sinn des Lebens sind, nicht die Rabbiner.»

Am Schabbat wurden keine Vorschriften eingehalten: Am Nachmittag fuhr ihre Familie mit dem Taxi ins Zentrum von Tel Aviv, zu Onkel Akiva. Ein Haus – so beschreibt es Govrin in unserem Gespräch – voller Archäologie und moderner Kunst, darunter Bilder von Marc Chagall mit einer persönlichen Widmung in Jiddisch «far meyn Fraynd Akiva». Die Männer und Frauen hätten rauchend am Tisch gesessen, «und dann fingen mein Vater und Onkel an, alte Geschichten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu erzählen, die Leute aus ihrem Schtetl in der Ukraine zu imitieren, chassidische Lieder zu singen und zu tanzen».

Erst viel später sei ihr klargeworden, dass sie so die Lieder dieser religiös-mystischen Strömung des orthodoxen Judentums direkt übermittelt bekommen habe – obwohl sie sich in einem durch und durch weltlichen, sozialistischen Milieu wusste. Als junge Doktorandin in Paris beschloss Govrin später, diese chassidischen Quellen genauer zu erforschen.

Literatur als Gebet

Die Suche nach den tieferen Bedeutungen der mystisch-religiösen Inhalte zieht sich durch ihr ganzes Werk. Am prominentesten zeigt sich dies in ihrer ersten Novelle, «HaShem» (der Name), in der Govrin den Weg der Titelheldin Amalia ins orthodoxe Judentum und damit in den Wahnsinn beschreibt. Das ganze Buch ist in Form eines Gebetes verfasst – eine Textgattung, der sich Govrin mit ihrem Pariser Freund Jacques Derrida im Sachbuch «Body of Prayer» genauer gewidmet hat.

Auch in «Strandliebe» repetiert die Autorin Song- und Gedichtzeilen, beschreibt wiederholt die zarten und nackten Schulterblätter ihrer Heldin oder die harte Haarspange. Das erzeugt einen gewissen Sound, doch kann es den Leser etwas ermüden. Auch die Farbe Rot zieht sich durch den Roman wie ein Hinweis auf das, was verschwiegen wird: das Blutvergiessen der Shoah. Rot steht aber auch für die unglaubliche Vitalität, die in dieser ersten Generation von Israeli steckte.

Diese Vitalität ist auch der Grund, weshalb Govrin nicht nach Tel Aviv, sondern nach Jerusalem gezogen ist, «der Stadt von Eros, Leidenschaft und der Sehnsüchte von Juden, Christen und Muslimen gleichermassen», wie sie sagt. «Jede Bewegung auf dem Tempelberg wird auf der ganzen Welt wahrgenommen, wie die Wellen, die sich konzentrisch ausbreiten, wenn ein Stein ins Wasser fällt.»

Denselben seismografischen Effekt hat auch die Liebesgeschichte in ihrem Roman: Die Leidenschaft zwischen den drei Protagonisten hat über die Grenzen dieses Dreiergespanns hinaus einen Effekt auf die anderen Bewohner von Aschkelon und weckt bei der älteren Generation Erinnerungen an ihre eigene Jugend.

Verlust einer Vision

Mein Besuch bei der Schriftstellerin fällt in eine Zeit der Unruhen. Auf dem Tempelberg gibt es Ausschreitungen, darauf folgte ein Schlagabtausch in Gaza, und auf der Strasse protestieren Hunderttausende Israeli gegen die Rechtsreform von Benjamin Netanyahu.

Michal Govrin spricht öffentlich an den Demos und plädiert für eine Rückbesinnung auf die Anfänge des Staates mit seiner zusammengewürfelten Gesellschaft, wie sie sie auch in «Strandliebe» beschreibt. Dieses junge Israel, das von der Vision vom eigenen Land und von der Energie des Aufbaus zusammengehalten wurde, wirkt nun wie ein Gegenstück zur auseinanderklaffenden heutigen israelischen Gesellschaft.

Ob sie die aktuelle Situation pessimistisch stimmt? «Sie macht mich nachdenklich», sagt Govrin. «Doch als Tochter einer Holocaustüberlebenden weiss ich, dass das Leben irgendwie weitergeht.»

Und wie geht das Leben weiter? Darauf antwortet Govrin indirekt, als ich sie nach unserer Begegnung per Zufall mit ihrer Enkelin auf einem Spielplatz treffe. Mit Blick auf unsere beiden spielenden Kinder meint sie: «Schliesslich entsteht neues Leben bei der Begegnung zweier Menschen und von deren Körper. Das klingt trivial, doch manchmal muss man sich dessen wieder bewusst werden.»

Michal Govrin: Strandliebe. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Geparden-Verlag, Zürich 2023. 392 S., Fr. 38.90.

Foto Cover:
Miklós Klaus Rózsa